Kung Fu (gesprochen: gungfu)

Manchmal bin ich ganz froh, dass ich selten sofort nach einem Ereignis, das mich in unserer Chinazeit beschäftigt, zum Schreiben komme. So habe ich Zeit die Eindrücke zu verarbeiten; ich kann mir Gedanken machen, wie ich davon erzählen kann. Trotzdem jagt mich das schlechte Gewissen, weil sich in meiner Gedankenschleife nicht nur weitere Themen sammeln, sondern weil ein paar begeisterte Leser auf den nächsten Text warten.

Als Sportbegeisterte war es für mich irgendwie klar, dass ich ein bisschen – ein ganz bisschen wenigstens – in chinesische Sportarten eintauchen möchte. Und somit hatte ich mich schon im Vorfeld auf diese Studienfahrt gefreut, da ich mir erhofft hatte, Einblicke in eine Kung Fu-Schule zu erhalten, die einem Reisendenden sonst vorenthalten werden – außer man bucht sich für eine Zeit als Teilnehmer ein. Dies ist seit mehreren Jahren möglich, und ich hatte diese Variante der Unterkunft auch für meine Schüler in Erwägung gezogen, doch schnell davon Abstand genommen, weil erforderliche Tugenden (siehe unten) nicht in einer von der Lehrerin ausgesuchten Fahrt von allen erwartet werden kann. Dass ich mit den beiden 11. Klassen und meinem neuen Kollegen ein beeindruckendes Erlebnis in Dongfeng, Region Henan – unweit des Shaolin Klosters/Tempels – hatte, ist der Tatsache geschuldet, dass wir mehrere Stunden Unterricht an einer Kung Fu-Schule genießen durften, die unserem Hotel gegenüber lag. Somit hatten wir täglich ungeahnte Einblicke in den Tagesablauf der Schüler und deren Kunstfertigkeit.

Als knappes Hintergrundwissen muss Folgendes zunächst genügen: Kung Fu gilt als die älteste Kampfkunst Chinas. Viele andere Abarten, Erweiterungen, Varianten, die in China in ihrer Gesamtheit Wu Shu heißen, sind daraus hervorgegangen. Vor über 1500 Jahren im Shaolinkloster von Mönchen entwickelt, bedeutet es auch heute noch übersetzt „harte Arbeit“, und man kann daraus ableiten, dass nur der Ausdauernde, der Willige, der Disziplinierte, der sich Mühende und der Kraft investierende Schüler dem Anspruch der Sportart genügen kann. Es gibt kein ausgesprochenes Ziel, das es zu erringen gilt, wie einen Dan oder besonderen farbigen Gürtel, wie im Karate oder Judo; Kung Fu zu betreiben bedeutet, sich stetig verbessern zu wollen, seine Kunst zu vervollkommnen. Hinzu kommt eine spirituelle Dimension, die für mich in den Kung Fu-Schülern, die ich auf der Studienfahrt im September kennengelernt habe, in einer nach außen strahlenden inneren Ruhe manifestiert haben.

Das Shaolinkloster gilt als Wiege des Kung Fu und viele, viele Schulen haben sich dort im Laufe der Zeit angesiedelt. Als das Kloster zum Anziehungspunkt des Tourismus in den 1980er Jahren ausgebaut wurde, wurden die Schulen in die nahgelegene Stadt Dongfeng zwangsumgesiedelt. Die kleinste Schule bietet 3000 Schülern Platz, die größte Schule hat über 30.000 Eleven. Allen gemeinsam ist das Internatssystem; die Kinder können etwa ab dem 5. Lebensjahr dort eingeschult werden und sehen ihre eigenen Eltern fortan nur noch ein Mal im Jahr, wenn die Schulen im Winter für ca. 1 Monat schließen. Die Kinder bleiben bis sie etwa 17 oder 18 Jahre alt sind, ihren Schulabschluss machen, um anschließend selbst Kung Fu-Lehrer zu werden, in die Filmbranche zu gehen oder in Kung Fu-Theatern der großen Städte (oder weltweit) ihre Künste zu zeigen. Angeblich sind die Aussichten beruflich tätig zu sein nicht schlecht, wenngleich die Konkurrenz in China immer sehr groß ist. Die von uns besuchte Schule hatte etwas 7.000 Schüler, die im wechselnden Schichtsystem vormittags Unterricht und nachmittags Kung Fu-Unterricht hatten.

 

Der Tag beginnt bereits vor 6h…..denn um Punkt 6 Uhr konnte ich von meinem Hotelzimmer aus die trainierenden Gruppen bei der morgendlichen Fitnessstunde beobachten, d.h ich wurde von ihren militärisch klingenden Exerzierrufen geweckt. Ein Blick aus dem Fenster und ich sah Horden in militärischem Gleichschritt die Hauptstraße entlang joggen; andere nutzten den freien, unbebauten Platz hinter dem Hotel für Sprint-, Liegestütz- und Entengangübungen, die von einem Lehrer angeleitet wurden.

Blick aus meinem Hotelfenster morgens um 6h

Blick aus meinem Hotelfenster morgens um 6h

Um etwa 7h ging es wohl zum Frühstück und in den folgenden Unterricht. Wir durften um 10h zum Unterricht erscheinen, wurden am Tor abgeholt und über das Gelände geleitet: Überall waren Gruppen von etwa 15-20 Schülern – auch altersgemischt – zu sehen, die unterschiedlichste Aufgaben mit und ohne Sportgerät absolvierten.

Wir wurden in eine Turnhalle im 3. Stock geführt, die mit einem etwas heruntergekommenen Teppich und einer richtigen Turnfläche zweckmäßig ausgestattet war. Jeweils zwei Einheiten zu etwas 2h lagen vor uns. Unser Reiseführer war mit von der Partie, um beim Übersetzen zu helfen, aber einige unserer Schüler sprechen ja selbst fließend Chinesisch, sodass wir bald ganz Ohr waren, als die beiden etwa 18-jährigen Schüler, die uns als Lehrer zugeteilt waren, uns mit den ersten Übungen vertraut machten.

Zunächst ging es um einen Einblick in die spirituelle Dimension, das zur Ruhe kommen, mit dem Körper Eins werden, sich konzentrieren, den Körper spüren. Gut, dass sich alle darauf einließen. Der Gruppe tat es unheimlich gut, zumal wir uns gerade zuvor von zwei Schülern frühzeitig verabschieden mussten, und alle ein wenig in Aufruhr waren – aber so konnte jeder sein Unruhe oder Ärger ableiten. Und tatsächlich die Schüler waren aufmerksam in den nächsten Stunden bei allen Bewegungsablaufen, Schritt- und zeitgleichen Armbewegungen dabei.

Unsere Lehrer waren schon ein wenig nachsichtig mit uns, aber sie korrigierten mehrfach und waren erst nach dem xten Übungsdurchgang mit uns zufrieden. Ich war beeindruckt, dass sie keine Berührungsängste hatten, sich auf uns einließen und uns ganz zugewandt, aber bestimmt verbesserten. Die korrekt, exakte Bewegungsausführung stand eindeutig im Vordergrund! Erst zum Ende der ersten Trainingseinheit machte sich der Wunsch nach mehr schnellkräftigen Übungen breit, und wir hatten den Eindruck, dass wir unsere Wünsche ruhig äußern konnten.

Am Nachmittag zeigten uns zwei andere Junglehrer, wie wir eine kurze Sequenz von Tritten bzw. Schlägen, die in einer bestimmten Abfolge aneinandergereiht wurden, ausführen konnten, und das sah sogar kampfgefährlich aus – besonders meine 17-jährigen Jungs waren von ihrem nur wenige Jahre älteren Lehrer begeistert und ließen sich gern korrigieren.

Zu unserem Gesamterlebnis hat beigetragen, dass die Schule es sich nicht nehmen ließ, auch eine Auswahl ihrer wohl besten Schüler direkt neben uns auf der Turnfläche trainieren zu lassen. Somit bekamen wir einen Einblick, wie gewandt, ausdauernd und präzise bereits junge Schüler von etwa 10, 11 Jahren ihre Übungen ausführen konnten. Die Gruppe war altersgemischt, sodass deutlich wurde, welches Niveau die besten wohl erreichen können. In unseren kleinen Pausen wollten wir nur noch zuschauen, was die Trainingsgruppe so „drauf hat“. Unsere Schüler und auch wir waren beeindruckt – aber dahinter stecken eben auch eine Menge Drill, Disziplin und Entbehrungen, die sicher keiner von uns aufbringen kann oder will.

die Vorzeigeschüler im Gleichschritt - beeindruckend

die Vorzeigeschüler im Gleichschritt – beeindruckend

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unser Übungsleiter – 18 Jahre alt

 

Der spätere Schulrundgang mit dem Direktor war wenig mehr als ein Rundgang über den Hof, wo sicherlich ein paar Hundert Schüler trainierten, aber wir konnten leider keinen Blick in das Innere der Schule erhaschen – war sicherlich nicht erwünscht. Aber das war dann auch nicht mehr wichtig; wir konnten uns gut vorstellen, dass enge Schlaf- und Lehrräume, wenig Platz für Persönlichkeitssphäre bieten, dass Lehrer und Schüler viele Stunden täglich miteinander verbringen, was spannungsreich aber auch vertrauensfördernd sein kann.

Wir staunten, kritisierten nicht, sondern waren einfach gefangen von diesen Momenten.

Training im Hof

Training im Hof

Training im Gleichklang

möglichst präzise von Kleinauf

einer der Jüngsten

einer der Jüngsten

auch ein paar Mädchen besuchen die Schule

auch ein paar Mädchen besuchen die Schule

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